Familie ist wichtiger als Bildung und Wohlstand

Der Psychologe Rob Henderson studierte in Yale Psychologie und promovierte 2022 in Cambridge zum Thema des Zusammenhangs zwischen psychischen und sozialen Bedrohungen und moralischen Urteilen. Besonders interessant ist seine Perspektive auf die Bedeutung der Familie für die soziale Mobilität, die er trotz seiner eigenen Erfahrung ohne eine liebevolle Familie vertritt.

Zitat:

Was uns Henderson vorlegt, ist jedoch keine Neuauflage des amerikanischen Traums. Eher handelt es sich um eine der Erfahrung entsprungene Kritik am linksliberalen Amerika und an seiner Moral. Der erste Abschnitt seines Buches setzt den Leser ins Bild: „Als jemand, der nie wirklich eine hatte, bin ich vielleicht die am wenigsten qualifizierte Person, um die Bedeutung der Familie zu verteidigen. Aber als jemand, der mehr Bildung genossen hat, als ich je erwartet hätte, bin ich vielleicht besser qualifiziert zu sagen, dass wir der Bildung zu viel Bedeutung beimessen.“ Und er fügt an: „Ich bin dankbar für die wundersame Entwicklung meines Lebens, aber ich musste den Aufstieg am eigenen Leib erfahren und den Gipfel der Bildung erreichen, um ihre Grenzen zu verstehen. Ich habe verstanden, dass eine warmherzige und liebevolle Familie unendlich viel mehr wert ist als das Geld oder die Leistungen, von denen ich hoffte, dass sie mich dafür entschädigen würden.“

Henderson kennt die Forschung zur sozialen Mobilität. Er weiss, dass die Familie diesbezüglich prägender wirkt als soziale Klassenzugehörigkeit: Wo die Familie intakt ist, stehen die Aufstiegschancen auch bei Angehörigen bildungsferner Schichten gut.Der Absprung aus seiner zerrütteten Existenz gelingt ihm, als er mit achtzehn in die amerikanische Luftwaffe eintritt. Im Militär findet er Mentoren, die seine Leistungsbereitschaft mit Vertrauen belohnen. Vor allem lehrt ihn der Dienst bei der Luftwaffe jene Disziplin, die es ihm erst ermöglicht, sein Potenzial zu entfalten: „Das Militär lehrte mich, dass Menschen keine Motivation brauchen: Sie brauchen Selbstdisziplin. Motivation ist lediglich ein Gefühl. Selbst-Disziplin dagegen bedeutet: ‚Ich werde das jetzt tun, unabhängig davon, wie ich mich fühle.‘“

Mehr: www.nzz.ch.

Der Rechtfertigungsversuch von Frauke Brosius-Gersdorf

Frauke Brosius-Gersdorf attackiert in einer Erklärung die Medien und sieht sich einer Kampagne ausgesetzt. Jan Philipp Burgard erkennt – meines Erachtens zutreffend – bei ihr ein fragwürdiges Demokratieverständnis und auch eine Unaufrichtigkeit.

Zitat: 

Aus den Zeilen von Brosius-Gersdorf spricht ein fragwürdiges Verständnis von Pressefreiheit. Das wird umso deutlicher, wenn man sich im Detail mit ihrer „Anklageschrift“ gegen die Medien auseinandersetzt. So heißt es in der Erklärung, die Berichterstattung über ihre Position zur Reform des Schwangerschaftsabbruchs entbehre der Tatsachengrundlage. Der Hauptvorwurf in den Medien sei, dass sie dem ungeborenen Leben die Menschenwürdegarantie abspräche.

Fakt ist: Noch im Februar 2025 äußerte Brosius-Gersdorf als Sachverständige im Rechtsausschuss des Bundestags: „Meines Erachtens gibt es gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt.“ Ein Beleg für die umstrittene Position von Brosius-Gersdorf, den auch die WELT mehrfach zitierte – und kritisierte. Doch wo entbehrt hier die Berichterstattung der „Tatsachengrundlage“, wie Brosius-Gersdorf behauptet?

Die Juristin unternimmt nicht nur einen durchsichtigen Versuch, von der Kontroverse um ihre Person abzulenken, indem sie den Medien Diffamierung vorwirft. Brosius-Gersdorf zeigt unter Druck auch ein fatal fehlgeleitetes Demokratieverständnis. Ihr Vorwurf, die Berichterstattung sei „von dem Ziel geleitet, die Wahl zu verhindern“, impliziert die Annahme, die Bundestagsabgeordneten seien intellektuell nicht in der Lage, sich ein eigenes, umfassendes Bild von Brosius-Gersdorf als Person und Juristin zu machen. Folgt man ihrer Logik, ist ihre Wahl ausschließlich an den böswilligen Medien gescheitert. Doch in Wirklichkeit ist sie an ihrer eigenen, für eine Juristin extremen Politisierung gescheitert.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Der narzisstische Film

Lars Henrik Gass hat mit Objektverlust: Film in der narzisstischen Gesellschaft (Berlin: XS-Verlag 2025) einen viel beachteten Essay über den Film in einer narzisstischen Gesellschaft geschrieben. Seine These: Mit der Dominanz der sozialen Medien und Streamingdiensten verändert sich auch der zeitgenössische Kinofilm allmählich zu einem Produkt einer neuartigen sozialen Kybernetik. Diese entspricht einem radikal veränderten Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Der Blick neuer Filme richtet sich nicht mehr neugierig oder aus Erkenntnisinteresse auf eine äußere Wirklichkeit, sondern auf einen Fundus überlieferter Bilder, denen ihre historische und gesellschaftliche Bedeutung genommen wurde. Kurz gesagt: Der postmoderne Film ist zur Propaganda einer Welt ohne Außen geworden.

Andreas Scheiner hat das Buch für die NZZ vorgestellt. Ein Auszug: 

Am Anfang des Kinos stand das Staunen. Der neuartige Apparat erlaubte es den Menschen, mit Neugierde auf die Wirklichkeit zu schauen. Filme beförderten „die gesellschaftliche Teilhabe und eine universalistische Sicht auf die Welt“, wie der Filmtheoretiker festhält. Heute befördern die Filme vor allem noch den Narzissmus des Einzelnen.Wir leben in einer selbstverliebten Gesellschaft, in der laut Gass „die mitunter schmerzliche, fremdartige Begegnung mit dem Anderen, Neuen, Nichtidentischen“ keinen Platz mehr habe. Der Narzissmus „will nur noch erfahren und haben, was er kennt“. Und so sehen die Filme dann auch aus.Sie richten sich an Menschen, die 20 Franken im Monat für Netflix ausgeben. Oder ähnlich viel für ein Kinobillett. „Die Mittelschichten betrachten sich in diesen Filmen selbst“, schreibt Gass. Allerdings „nicht im Sinne einer womöglich kritischen Darstellung der materiellen Bedingungen ihrer Existenz“.

Exemplarisch sind für ihn die Filme von Ruben Östlund („Triangle of Sadness“) und Paolo Sorrentino („Parthenope“), aber auch eine Serie wie „The White Lotus“ liesse sich anführen: Diese Stoffe vertreten eine „vulgäre Kapitalismuskritik samt eingebauter Verstehanleitung“. Dem Anschein nach werden soziale Missstände offengelegt, „über die man selbst natürlich erhaben ist dank einem hypersensiblen Mindset“.Alles ist nur noch PoseAber diese Produktionen interessieren sich nicht für eine Rea lität, sondern sie „inszenieren Geschmack“. Gass, der sich auch über das gutbürgerliche Arthouse-Kino von Joachim Trier, Wes Anderson oder Mia Hansen-Löve auslässt, kritisiert zu Recht, dass im typischen Gegenwartsfilm alles zur Pose wird, „die man umstandslos einnehmen kann, zur Ausstattung – ohne Entwicklung, ohne Komplexität, ohne Widersprüche“.

Lars Henrik Gass nennt es den narzisstischen Film. Dieser bildet eine Gesellschaft ab, die immer seltener ins Kino geht, aber ihr Selbstbild auch im Film wiederfinden möchte. Auf Netflix muss sie nicht lange suchen. Der narzisstische Film, fasst Gass zusammen, sei „eine Art All-inclusive-Angebot für den Mittelstand als Zielgruppe, der hier sein Zeitporträt erhält, sein Epos“.

Wird es irgendwann wieder besser? Die grosse Chance für das Kino ist ausgerechnet seine grösste Bedrohung: die KI. Paradoxerweise wird die Technik durch die Technik obsolet: Weil es immer weniger Mittel braucht, um Filme zu machen. Man muss nicht James Cameron heissen und mehrere hundert Millionen Dollar aufwenden, um „Avatar“ in die Länge zu ziehen. In naher Zukunft kann praktisch jeder auf Pandora drehen und Geschichten von blauen humanoiden Mondbewohnern erzählen. Womit sich dann kein Mensch mehr dafür interessieren wird.Blockbuster werden ihre Anziehungskraft verlieren. Denn selbst an noch so spektakulären Bildern hat sich das Publikum irgendwann sattgesehen. Was sich nicht erschöpft, sind die Geschichten. Solche, die sich keine KI ausdenken kann. Und die sich nicht darum drehen, was ohnehin jeder schon kennt, sondern die das eigene Weltbild herausfordern. Wenn es so kommt, dann kommt die beste Zeit für das Kino erst noch.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.nzz.ch.

John F. MacArthur Jr. (1939–2025)

John F. MacArthur Jr., der Millionen Menschen durch aufgezeichnete Predigten, Radiosendungen, Bibelkommentare und eine Studienbibel die Heilige Schrift näherbrachte, verstarb am 14. Juli 2025 im Alter von 86 Jahren. MacArthur war davon überzeugt, das wichtigste Merkmal seines Dienstes sei gewesen, dass er die Bibel mit der Bibel erklärte, ohne seine Predigten mit persönlichen Geschichten, Kommentaren zu aktuellen Ereignissen oder Appellen an die Emotionen zu überfrachten, sondern zeitlose Wahrheiten lehrte.

CT schreibt:

MacArthur löste immer wieder Kontroversen aus und geriet mit Evangelikalen aneinander, die mit ihm über die Gaben des Heiligen Geistes, biblische Geschlechterrollen und die Bedingungen für die Erlösung nicht einer Meinung waren. Er räumte manchmal ein, dass diese Konflikte mit mehr Demut hätten bewältigt werden können. „Ich hätte vielleicht eher wie ein Lamm als wie ein Löwe auftreten sollen“, sagte er einmal über eine Predigt. MacArthur war jedoch auch davon überzeugt, dass die Verurteilung von Christen, die keine echten Christen sind, unerlässlich sei – und das zweite wesentliche Merkmal seines Wirkens.

MacArthurs treueste Anhänger waren von seiner Unerbittlichkeit inspiriert. Die satirische Nachrichtenseite Babylon Bee feierte MacArthur häufig als Krieger, der in absurden Konflikten triumphierte. Die christliche Journalistin Megan Basham lobte seinen Mut. „MacArthur … hat sich konsequent geweigert, sich den neuesten Trends anzuschließen, die nur nach Relevanz streben. Und genau diese Weigerung hat seinem Dienst für neue Generationen dauerhafte Relevanz verliehen“, schrieb sie auf der Social-Media-Plattform X. „Ich bin für immer dankbar für den Einfluss, den seine Lehre auf mein Leben hatte.“

MacArthur wurde am 19. Juni 1939 als Sohn von Irene Dockendorf MacArthur und John F. MacArthur Sr. geboren. Er war Sohn, Enkel, Urenkel und Ururenkel evangelikaler Prediger, deren Wurzeln bis nach Kanada und Schottland zurückreichen.

Mehr: www.christianitytoday.com.

Google sperrt katholischen Blog

Seit Samstagmorgen ist das italienische Blog messainlatino.it nicht mehr erreichbar. Die Seite diente Anhängern der überlieferten lateinischen Messe in Italien als Plattform und übte Kritik an einer modernisierten Kirche. Eine öffentliche Begründung liegt bislang nicht vor. Nach Angaben der Betreiber wurde die Seite wegen eines mutmaßlichen Verstoßes gegen die Community-Richtlinien – konkret im Bereich „Hassrede“ – von Google entfernt. Nun darf vermutet werden, dass Google Streitigkeiten um die tridentinischen Messe ziemlich egal sind. Bedeutender dürfte sein, dass sich messainlatino.it auch kritisch zu Neuerungen der katholischen Moraltheolgie geäußert hat, besonders im Blick auf die Sexualethik.

DIE TAGESPOST schreibt: 

Die Redaktion des Blogs, unter der Leitung von Journalist Luigi Casalini, sieht in der Sperrung einen massiven Eingriff in die Meinungsfreiheit. Auf der Plattform X (ehemals Twitter) schrieb er: „Ein immenser Schatz an Informationen und Inhalten ist verloren gegangen, und eine Stimme der öffentlichen Debatte wurde zum Schweigen gebracht“.

Die Redaktion vermutet, dass frühere Auseinandersetzungen mit Google zur Eskalation führten. Beiträge über den US-Bischof Joseph Strickland, der das Frauendiakonat kritisiert hatte, oder Artikel zur Unvereinbarkeit von Freimaurerei und katholischer Lehre waren zuvor bereits zeitweise gelöscht und nach Protesten wiederhergestellt worden. Casalini kündigte an, in den kommenden Tagen rechtliche Schritte einzuleiten – unter Berufung auf Artikel 21 der italienischen Verfassung, der Zensur ausdrücklich verbietet.

Auf der Homepage „Osservatorio internazionale Cardinale Van Thuan“ zur Soziallehre der katholischen Kirche kritisiert Stefano Fontana die Sperrung scharf: „Die Entfernung des Blogs messainlatino.it hat zu Recht für Aufsehen, Empörung und Besorgnis gesorgt. (…) Das ist keine Aussetzung – es ist eine vollständige Löschung.“ Fontana verweist darauf, dass der Blog über Jahre hinweg verlässlich über vatikanische Vorgänge berichtet habe, darunter Enthüllungen zur innerkirchlichen Auseinandersetzung um das päpstliche Schreiben „Traditionis custodes“. „messainlatino.it“ war, so Fontana, eine „maßgebliche Stimme“, selbst unter Andersdenkenden.

Mehr: www.die-tagespost.de.

Das Schweigen der Kirche

Während sich die Katholische Kirche in der Diskussion zur Kanditatur von Frauke Brosius-Gersdorf immerhin vereinzelt geäußert hat, fehlen Stellungnahmen aus den Reihen der Evangelischen Kirche (und m.W. auch aus den Reihen der DEA). Dass die EKD schweigt, hat laut David Wengenroth tiefere Gründe: „In ihrer Denkschrift ‚Schwangerschaftsabbruch‘ bediente sie sich dabei einer Argumentation, die sich nur vordergründig von Brosius-Gersdorfs Konzept unterscheidet. Mehr noch: Die EKD sprach nicht einmal mehr von abgestufter Menschenwürde, sondern nur noch von einem ‚Anspruch, zur Welt gebracht zu werden, der vom beginnenden Leben ausgeht‘, der hinter ‚anderen unabweisbar empfundenen Ansprüchen‘ der Schwangeren zurückstehen müsse.

Deshalb müssen wir leider zur Kenntnis nehmen: 

Letztlich geht es der gescheiterten Kandidatin ebenso wie der EKD darum, das Lebensrecht des ungeborenen Kindes zu einer Verfügungsmasse zu machen, die zu nichts mehr verpflichtet. Wer so argumentiert, macht eine verhängnisvolle Entwertung des menschlichen Lebens salonfähig. Die Aussicht auf eine Gesellschaft, in der Lebensrecht und Menschenwürde nur abgestuft gelten und regelmäßig hinter „anderen unabweisbar empfundenen Ansprüchen“ zurückstehen müssen, ist zum Fürchten. Im Fall der gescheiterten Richterkandidatin Brosius-Gersdorf hat die öffentliche Diskussion diese fatale Konsequenz bloßgelegt. Wenn die Öffentlichkeit bei der EKD-Position irgendwann einmal ebenso kritisch hinschaut, wird es ihr genauso gehen.

Mehr: www.idea.de.

Hinter Brosius-Gersdorf lauert Peter Singer

Zur Causa Frauke Brosius-Gersdorf empfehle ich erstens einen Kommentar von Josef Bordat:

Weil der grundgesetzlich verbriefte Lebensschutz auch dem Ungeborenen gilt, ist die Abtreibung in Deutschland ein Gegenstand des Strafrechts, also: verboten. Das ist logisch. Wenn ein grundlegendes Verfassungsrecht so massiv verletzt wird (es wird im Fall der Abtreibung mit Blick auf den ungeborenen Menschen aufgehoben), ohne dass es dafür definierte normative Schranken gibt (andere Grundrechte, Gesetze), kann der Staat nicht einfach zusehen. Dieser Staat hat eine in sich widersinnige Konstruktion erdacht: Die Abtreibung ist rechtswidrig (§ 218 StGB), bleibt aber straffrei für den Fall, dass a) Bedingungen vorliegen, die die Abtreibung aus der subjektiven Sicht der Frau unausweichlich machen (§ 218a Absatz 2), so dass sie selbst die Entscheidung trifft (§ 218a Absatz 1 Nr. 1) und b) zuvor eine Beratung stattfand (§ 218a Absatz 1 Nr. 1 i.V.m. § 219 Abs. 2). Man kann jetzt über diesen Kompromiss denken wie man will, § 218 StGB einfach zu streichen, geht gar nicht, denn damit bliebe ja die Aufhebung eines Grundrechts für bestimmte Menschen, nämlich die Ungeborenen, ohne weiteres und jederzeit möglich.

Und genau das findet Frauke Brosius-Gersdorf offenbar gut und richtig. Wie kann man darauf kommen? Dafür braucht es eine Auflösung der festen Verbindung von Mensch-Sein und Menschenwürde. Auf so etwas kommt man nur, wenn man die Würde nicht mehr ontologisch bestimmt, sondern von Bedingungen abhängig macht, etwa von Interessen und Präferenzen, wie das etwa der australische Ethiker Peter Singer tat, mit Blick auf Tiere. Singer meint, die klassische Unterteilung zwischen Mensch und Tier verfange nicht, man müsse vielmehr unterscheiden zwischen Wesen, die Schmerzen empfinden können und ein Interesse daran haben, von Schmerzen verschont zu bleiben, und Wesen, die das nicht können und damit auch kein Verschonungsinteresse haben. Erstere nennt er nun Personen, letztere wären damit „Nicht-Personen“.

Dabei gehören „some nonhuman animals“ (P. Singer, Practical Ethics, Cambridge 1979, 97) in die erste Gruppe (etwa Affen, Schimpansen, Bonobos, Gorillas, Orang-Utans), jeder menschliche Fötus jedoch in die zweite, denn: „no fetus is a person“ (sagt Singer, a. a. O., 118), ergo: „no fetus has the same claim to life as a person“ (ebd.). Für Singer hat die (angebliche) Unfähigkeit von Föten vor der 18. Schwangerschaftswoche „of feeling anything at all“ (ebd.) die Konsequenz, dass „an abortion up to this point terminates an existence that is of no intrinsic value at all“ (ebd.). Die Frage ist jetzt gar nicht mal, ob das überhaupt stimmt, dass der Fötus nichts spürt, sondern entscheidend ist die Denkweise dahinter. Es gibt menschliches Leben, das keinen Wert hat.

Und genau in diese Kerbe schlägt nun Frauke Brosius-Gersdorf und möglicherweise demnächst auch das Bundesverfassungsgericht insgesamt. Das ist fatal.

Zweitens weise ich gern auf eine Stellungnahme von Felix Böllmann hin:

Remaking the World

Heindrikje Kuhs stellt das hochinteressante und zugleich kurzweilige Buch Remaking the World von Andrew Wilson vor.

Ein Auszug: 

Andrew Wilsons Buch überzeugt nicht nur durch seine zentrale These, sondern auch durch Stil, Substanz und Relevanz. Drei Aspekte stechen dabei besonders hervor:

  • Die enthaltenen Geschichten sind schlichtweg hochinteressant. Man begegnet außergewöhnlichen Persönlichkeiten und Gruppen, erfährt von großartigen Erfindungen und spannenden Ideen. Beim Lesen fragt man sich immer wieder verblüfft: Das ist auch 1776 passiert?
  • Wilsons Stil ist kurzweilig, clever und lädt nicht selten zum Schmunzeln ein. Seine sorgfältige Recherche merkt man dem Buch an.
  • Christen sollen die Zeit und Kultur, in der sie leben, bestmöglich verstehen – nicht nur, um treu zu leben, sondern vor allem, um andere Menschen mit dem Evangelium zu erreichen. Genau auf dieses Ziel läuft das Buch erfreulicherweise hinaus.

Mehr: www.evangelium21.net.

„Auch die historische Theologie ist an das Wort Gottes gebunden“

Hermann Sasse schreibt (Sacra Scriptura, 1981, S. 160):

Auch die historische Theologie ist an das Wort Gottes gebunden. Sie kann und darf nicht entarten zu einer „unkirchlichen Theologie“ wie sie am Anfang dieses Jahrhunderts programmatisch gefordert wurde und wie sie heute wieder in Blüte steht. Die Theologie ist niemals „voraussetzungslose“ Wissenschaft, ein Ausdruck, dessen Vater David Friedrich Strauß war. Alle Theologie ruht auf der Voraussetzung, daß Gott geredet hat und noch heute im Wort der Heiligen Schrift redet. Kein Theologe kann zugeben, daß, weil auch andere Schriften diesen Anspruch machen, das von dem Anspruch des christlichen Glaubens nicht gelten könne. Das unterscheidet den Theologen von dem Religionsforscher, der als solcher diese Unterscheidung nicht machen kann.

Der große Fehler des Friedrich Merz

Ich wollte es nicht glauben. Aber es stimmt. In der heutigen Bundestagsdebatte antwortete Bundeskanzler Merz auf die Frage der AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, eine Kandidatin zu wählen, „für die die Würde eines Menschen nicht gilt, wenn er nicht geboren ist“, mit: „Auf Ihre hier gestellte Frage ist meine ganz einfache Antwort: Ja!“

Somit unterscheiden wir also wieder zwischen lebenswerten und lebensunwerten Menschen. Gute Nacht! 

Christen dürfen so eine Entwicklung nicht schweigend hinnehmen. Gut, dass Dennis Pfeifer von der IDEA-Redaktion schnell reagiert hat:

Wer in einer christlich geprägten Partei Verantwortung trägt, kann die Frage nach dem Schutz des ungeborenen Lebens nicht derart abbügeln. Gerade CDU/CSU haben sich in ihrem Grundsatzprogramm immer wieder klar auf das christliche Menschenbild berufen. Es gehört zum Markenkern der Partei.

Dieses Menschenbild kennt in dieser Frage keine eingeschränkten Maßstäbe: Es nimmt die Würde des Menschen ernst – von der Zeugung bis zum natürlichen Tod. Dieses Fundament der Christdemokratie kann und darf nicht beliebig werden, nur weil die politische Lage unbequem ist.

Der Kanzler hätte den moralischen Konflikt benennen müssen. Merz hätte deutlich machen können, dass mit ihm an der Spitze die Union nicht an Paragraf 218 rüttelt. Er hätte sagen können, dass für ihn die Menschenwürde auch für ungeborene Kinder als Ebenbilder Gottes schon im Mutterleib gilt.

Man muss in einer Demokratie auch in einer Regierungskoalition über schwierige ethische Fragen streiten können. Merz‘ schnelles Ja ohne jede Erklärung wirkt dagegen wie ein Offenbarungseid: Das Gewissen wird dem Machterhalt geopfert.

Mehr: www.idea.de.

Glaube ist subjektiv und objektiv zugleich wahr

Der lutherische Systematiker Franz Hermann Reinhold von Frank (1827 – 1894) gehörte zu den entschiedensten Gegnern von Albrecht Ritschl. Er versuchte, die Lehren der lutherischen Bekenntnisschriften in einer existenzbezogenen Weise neu zu begründen, indem er die persönliche Glaubensgewissheit mit einer objektiven Offenbarungstheologie verband. Kurz: Der christliche Glaube ist subjektiv und objektiv zugleich wahr. 

Deutlich wird das etwa im folgenden Zitat (System der christlichen Wahrheit, 3. Aufl., 1894, S. 3, leicht modernisiert):

Es ist eine prinzipielle, aus schlechten philosophischen Voraussetzungen auf das christliche Gebiet hereingekommene Verschrobenheit zu behaupten, dass der Charakter der Heilswahrheit, welche wir dem christlichen Bewusstsein entnehmen, die Darstellung ihres objektiven Zusammenhanges ausschließe; oder dass der Eintritt der Wiedergeburt, das Werden einer Menschheit Gottes weniger aus Ursachen sich erklären lasse als irgend ein anderer empirischer Vorgang. Dergleichen Dualismus trägt von vornherein den Keim des Todes in sich und hängt zusammen mit einer Stellung zur christlichen Wahrheit welche dem Glauben widerspricht.

Wofür steht Frauke Brosius-Gersdorf beim Lebensrecht?

Obwohl sich mehrere CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete und Landesminister der Union kritisch zur Nomininierung von Frauke Brosius-Gersdorf für das Verfassungsgericht geäußert haben, ist sie gestern vom Wahlausschuss des Bundestags für das Amt vorgeschlagen worden. Laut Jens Spahn eine Kompromisslösung: Die Sozialdemokraten sicherten angeblich zu, dass Brosius-Gersdorf nicht Vizepräsidentin des Verfassungsgerichts werden solle.

Dieser gesamte Vorgang ist beachtlich, da bekannt ist, dass die Rechtsprofessorin nicht allen Menschen die Menschenwürde zugestehen möchte. Heißt es doch im Grundgesetz Arikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Stephan Klenner berichtet für die FAZ: 

Frauke Brosius-Gersdorf arbeitete in der Regierungskommission der Ampelkoalition zu einer möglichen Reform des Schwangerschaftsabbruchs mit. Im von ihr verantworteten Kapitel des Kommissionsberichts ist zu lesen, für die Geltung der Menschenwürde „erst für den Menschen ab Geburt“ sprächen „gute Gründe“. In einem Festschriftbeitrag zu Ehren ihres Doktorvaters, des Rechtsphilosophen Horst Dreier, schrieb Brosius-Gersdorf im vergangenen Jahr, „die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert“, sei „ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss“.

Diese Auffassung steht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die Karlsruher Richter schrieben in ihrem Abtreibungsurteil im Jahr 1993, die Menschenwürde komme „schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu“. Für Brosius-Gersdorf sind Menschenwürde und Lebensschutz hingegen „rechtlich entkoppelt“. Die Potsdamer Staatsrechtsprofessorin stützt ihre Haltung auf die Kommentierung Horst Dreiers zum Menschenwürde-Artikel im Grundgesetz. Dreier wurde im Jahr 2008 von der SPD als Bundesverfassungsrichter nominiert. Seine Wahl scheiterte an der Union, die sich an seinen Formulierungen zur Menschenwürde störte. Brosius-Gersdorf schreibt hingegen, Dreier habe beim Thema Menschenwürde „Meilensteine in der rechtswissenschaftlichen Diskussion gesetzt“.

Die Ansichten von Brosius-Gersdorf zur Menschenwürde werden auch von etlichen Juristen, die ein liberaleres Abtreibungsrecht befürworten, nicht geteilt. Dies gilt auch für Teile der SPD. Die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hat vor der Sitzung des für die Verfassungsrichterwahl zuständigen Bundestagsausschusses am Montag hervorgehoben, dass für sie die Menschenwürde bereits vor der Geburt gilt. „Für mich als Sozialdemokratin und Bundesvorsitzende der Lebenshilfe ist es wichtig, dass wir niemals zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben unterscheiden. Jedes Leben ist lebenswert – und hat Menschenwürde auch schon im Mutterleib“, sagte Schmidt der F.A.Z.

Die frühere Bundesgesundheitsministerin ist seit 2012 Bundesvorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe, die sich für Menschen mit geistiger Behinderung einsetzt. Schmidt sagte der F.A.Z., „dass die Menschenwürde bereits im Mutterleib gilt“, sei auch für den „gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Behinderungen wichtig“.

Mehr: www.faz.net.

Der heterosexuelle Mann als Spielzeug

Wer sich heute dazu bekennt, kein Feminist zu sein, muss damit rechnen, in die rechte Ecke gestellt zu werden (vgl. hier u. hier). Schließlich können, so denken jedenfalls viele, nur Feministen demokratisch sein. Dabei hat der Feminismus den Mann inzwischen dermaßen dekonstruiert, dass es eigentlich progressiv wäre, für den Maskulismus einzutreten. 

Was meine ich damit?

Der alte Feminismus, obwohl ideologisch, vertrat meines Erachtens etliche schätzenswerte Anliegen, z.B. den Zugang zu Bildung oder das Wahlrecht für Frauen. Er wendete sich auch gegen die Verzweckung von Frauen. Die besten kritischen Bücher zum Thema Pornographie, die ich gelesen habe, stammen von Feministinnen.

Damals war der Mann noch nicht das Problem, sondern ein Gegenüber, mit dem sich Frauen auseinandersetzten.

Der Feminismus der sogenannten „dritten Welle“ ist hingegen intersektional, dekonstruktiv und queer. Es geht weniger um Gleichberechtigung als um Empowerment (also mehr Selbstbestimmung, Ermächtigung etc.). Dieser Feminismus begann, den Mann zu demontieren und zu bekämpfen. Und heute sind wir soweit, dass die Männer scheinbar nur noch als Spielzeuge zu gebrauchen sind. Das Model Emily Ratajkowski erklärte am 19. Juni 2025 etwa der Zeitschrift ELLE:

„Ich mag Männer immer noch“, fügt sie hinzu. „Ich habe nur keine heterosexuellen Männer in meinem Leben, es sei denn, sie sind romantisch interessant. In der Hierarchie der Bedürfnisse steht das ganz oben auf der Pyramide, was schön ist. [Männer sind] Vergnügen und Spaß, aber nicht Teil meines Kernlebens. Der Rest meines Lebens besteht aus der Gemeinschaft mit anderen Frauen und queeren Menschen und dem Muttersein.“ Mit diesen Frauen – darunter das Model und die Schauspielerin Adwoa Aboah – zu Abend zu essen und etwas zu trinken, gehört zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. „Es macht so viel Spaß, mit meinen Freundinnen zu quatschen“, sagt sie lachend. Die beiden fahren diesen Sommer zusammen in den Urlaub, und ja, „es wird brat“ [spöttische Bezeichnung für ein unartiges oder freches Kind]. 

Mirna Funk zeigt in ihrem sehr lesenswerten Artikel „Der heterosexuelle Mann als Fehler“, dass dieser Feminismus allerdings gar nicht den Sehnsüchten der meisten Frauen entspricht. Zitat:

Während medial Männerbashing als Empowerment gilt, wächst gleichzeitig das Interesse vieler junger Frauen an traditionellen Lebensmodellen. Laut einer Umfrage von 2021 wünschen sich 62 Prozent der Frauen unter 30 ein „klassisches Familienmodell“ mit einem Hauptverdiener und einer daheimbleibenden Mutter. In den USA zeigt eine Pew-Studie von 2022, dass fast die Hälfte aller jungen Frauen angibt, sich in Zukunft mehr um Kinder als um Karriere kümmern zu wollen. Ein Beweis dafür, dass weder die zweite noch die dritte Welle zu den gewünschten Ergebnissen geführt hat. Denn emanzipiert ist eben nicht, wer Männer ausschließt. Emanzipiert ist, wer mit ihnen auf Augenhöhe leben kann. Wer nicht von der Unterwürfigkeit in die Überheblichkeit kippt. Von unterdrückt zu überlegen. Von Anpassung zu Arroganz. Wer denkt, Emanzipation bedeute die Machtverschiebung zugunsten der Frau, hat sie nicht verstanden. Wahre Gleichheit entsteht nicht im Machtkampf, sondern in der Beziehung. In der Verantwortung. In der Koexistenz.

Es ist anstrengender, mit Männern zu arbeiten, zu streiten, zu sprechen, als sie einfach auszuschließen. Es ist anstrengender, sich gegenseitig ernst zu nehmen, als sich gegenseitig zu canceln. Aber es ist genau diese Anstrengung, die Gesellschaft ausmacht. Alles andere ist Lifestyle. Und der kann noch so laut „Feminismus“ rufen. Er bleibt Eskapismus [d.h. die bewusste oder unbewusste Flucht aus der Realität] und vor allem Verweigerung. Die Verweigerung, sich ebenbürtig am gesellschaftlichen Geschehen zu beteiligen.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Ex-Evangelikale und die Suche nach einem tieferen Glauben

Warum werden Evangelikale zu Ex-Evangelikalen? Die Antworten darauf fallen unterschiedlich aus: Einige gehen, weil sie von unklugen oder sogar missbräuchlichen Leitern verletzt wurden; andere, weil sie an der Wahrhaftigkeit der Heiligen Schrift zweifeln. Für viele gibt es keinen offensichtlichen Grund, sondern nur ein langes, langsames Abdriften.

Ein kluger Artikel von Matthew Bingham zum Thema:

Ich stelle nicht infrage, dass es einigen Erscheinungsformen des evangelikalen Christentums an Tiefe fehlt. Was ich jedoch bezweifle, ist die Annahme, dass eine solche Oberflächlichkeit der Logik der evangelikalen Tradition selbst innewohnt. Meine diesbezügliche Zuversicht rührt nicht daher, dass ich die Praktiken der heutigen Evangelikalen untersuche, sondern vielmehr daher, dass ich einen Blick auf die protestantische Reformationsbewegung werfe, aus der der Evangelikalismus hervorgegangen und der er theologisch verpflichtet ist.

Die Reformatoren und ihre Erben setzten sich nicht nur für eine Reform der Theologie, sondern auch für einen neuen Ansatz in der christlichen Lebenspraxis ein. Sie bemühten sich, geistliches Wachstum zu fördern, das tief in der Heiligen Schrift verwurzelt ist, weil sie verstanden, dass jede gottgefällige geistliche Praxis aus der Heiligen Schrift abgeleitet werden muss und dass Gottes Wort das wichtigste Mittel ist, durch das der Herr sein Volk formt. Im Gegensatz zur mittelalterlichen Tradition, die das persönliche Bibelstudium zugunsten von Pilgerfahrten, Reliquien und einer Vielzahl außerbiblischer Praktiken beiseiteschob, verstanden die Reformatoren, dass sich ein lebendiger, wachsender Glaube auf dem Wort gründet: „Lasst das Wort des Christus reichlich in euch wohnen in aller Weisheit; lehrt und ermahnt einander“ (Kol 3,16).

Um dieses Ziel zu erreichen, dachten Reformatoren wie Johannes Calvin (1509–1564), nachreformatorische Pastorentheologen wie die englischen Puritaner sowie spätere Vorbilder aus dem 18. Jahrhundert wie der Theologe Jonathan Edwards (1703–1758) intensiv über die Frage nach dem Wie nach, die sich manchmal so schwer beantworten lässt. Unser Problem als Evangelikale besteht also nicht darin, dass wir keine Tradition des geistlichen Wachstums haben, sondern vielmehr darin, dass wir oft nicht bemerkt haben, dass es sie gab. Da die säkulare Kultur dem historischen christlichen Glauben zunehmend feindlich gegenübersteht, müssen Gläubige, die standhaft bleiben wollen, bewusster denn je authentisches geistliches Wachstum anstreben. Bei einigen Evangelikalen wird dieser Wunsch nach Tiefgang leider dazu führen, dass sie sich vom Protestantismus ab- und anderen religiösen Praktiken zuwenden, die keine Grundlage in der Heiligen Schrift haben. Diejenigen jedoch, die ernsthaft danach suchen, können ein reiches Erbe an einem auf Gottes Wort gegründeten Glaubensleben finden – hier bei uns.

Mehr: www.evangelium21.net.

Strenge als Ausdruck von Liebe

Katharine Birbalsingh gilt als Großbritanniens strengste Direktorin. Ihre Schüler aus dem Problemviertel sind allerdings heute Elite. Wie kann das gelingen. Mit Geradlinigkeit und Disziplin.

Ich zitiere (DIE ZEIT, 03.07.2025, Nr. 28, S. 31):

Die Michaela School ist keine dieser teuren privaten Anstalten mit Kricketplatz, Schwimmhalle oder neogotischen Speisesälen, wie es sie in England häufig gibt. Die rund 700 Schülerinnen und Schüler sind in einem hässlichen sechsstöckigen Zweckbau-Brocken in Wembley untergebracht. Der Bezirk ist einer der ärmsten Stadtteile der britischen Hauptstadt. Weniger als ein Drittel seiner Einwohner sind in Großbritannien geboren. Der asphaltierte und hoch umzäunte Pausenhof ist ein ehemaliger Parkplatz, daneben verläuft eine Bahntrasse.

Was man über die Schule auch noch wissen muss: Sie war in den vergangenen drei Jahren eine der erfolgreichsten Großbritanniens. Laut dem Fortschrittsindex, den die britische Schulaufsichtsbehörde Ofsted ermittelt, erreichen die MichaelaAbsolventen den größten Leistungszuwachs in der Altersgruppe der elf- bis sechzehnjährigen Schülerinnen und Schüler. Zuletzt schafften es 80 Prozent von ihnen an eine britische Elite-Universität.

Wie macht die Schule das? In Birbalsinghs Büro begrüßt Russell Crowe den Besucher mit einer Antwort in drei Worten. Direkt neben dem Schreibtisch der Direktorin steht ein Pappaufsteller des Schauspielers als Gladiator aus dem gleichnamigen Film. Darauf ist ein Schriftzug angebracht: »Hold the line.« Die Stellung halten, damit meint Birbalsingh, dass Lehrkräfte oder Eltern niemals einknicken dürften vor den Kindern. Nie dürften sie in den einfachen Ausweg flüchten oder falsche Nachsicht üben. »Wenn ein Kind dich mit großen Augen anschaut, möchte man ihm natürlich am liebsten seine Wünsche erfüllen. Aber wenn man das andauernd tut, dann werden aus diesen Kindern Erwachsene, die man nicht mehr so nett findet.« Erwachsene, meint sie damit, die glauben, auf alles einen Anspruch zu haben, egal, was sie dazu beitragen. Nach Birbalsinghs Ansicht äußert sich in Strenge vor allem deswegen Liebe, weil sie zu Chancengerechtigkeit führe. »Wir haben hier viele Kinder aus Verhältnissen, in denen es zu Hause keine Bücher gibt, wo beim Essen nicht über Politik gesprochen wird oder man sonntags nicht ins Museum geht. Die Kinder sind also allein auf die Schule angewiesen, um das zu lernen, was sie für ein erfolgreiches Leben brauchen.« Wenn Lehrer ihnen das nicht böten, aus Angst, zu viel von ihnen zu erwarten, dann schadeten sie genau damit am Ende den Kindern.

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