In der Augustinusforschung der letzten 100 Jahre wird immer wieder die so genannte „Diskontinuitätsthese“ ins Spiel gebracht und diskutiert. Diese These entstand als Gegenbewegung zu einer bis dahin eher einheitlich gedachten Augustinusrezeption.
Ein erster Vertreter der Diskontinuitätsthese war Hermann Dörries (1895–1977). In seinem Buch Die Entstehung der augustinischen Gnadenlehre (1930) diagnostizierte er einen Wandel in Augustinus’ Gnaden- und Freiheitsverständnis vor und nach der Auseinandersetzung mit Pelagius. Um das Jahr 412/413 habe es die markante Wende in Augustins Theologie gegeben. Auch der bekannte Biograph Peter Brown verteidigt die Diskontinuität zwischen dem frühen und dem späten Augustinus (Augustinus von Hippo, 1982).
Die Diskontinuitätsthese steht im Spannungsfeld zur „Kontinuitätsthese“, die einen scharfen Bruch oder mehrere sanfte Brüche in der Gnadentheologie des Kirchenvaters verneint. Einer der bekanntesten Vertreter der kontinuierlichen Entwicklung der Gnadentheologie bei Augustinus ist Volker Drecoll, der Herausgeber des Augustinus Handbuchs (2007).
Vor einigen Jahren hat Kenneth Wilson in einer Promotionsarbeit die Diskontinuitätsthese noch weiter radikalisiert, indem er nicht nur einen Bruch durch das Werk Ad Simplicianum de Diversis Quaestionibus (dt. An Simplicianus über verschiedene Fragen) behauptet, sondern mittels Redaktionskritik dieses Werk ins Jahr 412 transferiert (die allg. angenommene Entstehungszeit liegt bei 396/397 n. Chr.). Nach Wilson war also Augustinus schon über 60 Jahre alt, als er seine prädestinatorische Theologie entwickelte. Im deutschsprachigen Raum hat z.B. Roger Liebi für diese radikale Diskontinuitätsthese von Ken Wilson geworben (vgl. Hat Augustinus die abendländische „Ursünde“ erfunden?).
In den deutschsprachigen Akademikerkreisen hat sich besonders Kurt Flasch für einen radikalen Bruch innerhalb der Theologie Augustins ausgesprochen. Der Philosophiehistoriker hat sich schon früh vom christlichen Glauben verabschiedet und gilt als fundierter und unaufgeregter Kritiker des christlichen Glaubens (vgl. sein Warum ich kein Christ bin, 2013 u. sein Interview über den Glaubensverlust hier). In zwei neuen Veröffentlichungen hat er inzwischen auf Ken Wilsons These reagiert und damit seine Kritik an der der Ursündentheologie untermauert. Hartmut Leppin schreibt in seiner Rezension von Augustins letztes Wort: Prädestination und Augustin neu lesen: Diskussionsbeitrag zu Kenneth M. Wilson (beide erschienen im Verlag Vittorio Klostermann, 2024):
Die Reaktionen auf Wilsons Arbeit waren teils skeptisch, teils enthusiastisch zustimmend. Kurt Flasch hat aufgrund der Lektüre Wilsons seine bisherige Auffassung revidiert – und bekennt das freimütig. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben, diskutiert er in zwei kurzen, mit pointierten Titeln versehenen Büchern. In „Augustins letztes Wort“ widmet Flasch sich späteren Schriften des Kirchenvaters, vor allem jenen zur Prädestination, aus denen er weitere Passagen übersetzt, sowie abendländischen Texten, auf die Augustin einwirkte, namentlich solche von Thomas von Aquino und Johannes Calvin, aus dessen Werk Flasch eine Sammlung einschlägiger lateinischer Zitate zusammenstellt.
Im zweiten, ausdrücklich als Diskussionsbeitrag gekennzeichneten Werk, „Augustin neu lesen“, dessen Vorwort nur knapp drei Wochen später datiert ist, erörtert Flasch explizit Wilsons Arbeit, ferner Passagen aus „Ad Simplicianum“, einem Werk Augustins, das als grundlegend für die Gnadenlehre gilt und das Wilson in zentralen Teilen umdatiert hat. Zudem behandelt er lange, neu übersetzte Abschnitte aus den „Bekenntnissen“, die nach bisheriger Meinung mit jenen Teilen zusammenhingen. In beiden Werken verbinden sich die höchst qualitätsvollen Übersetzungen (hier leider gewöhnlich ohne lateinisches Original) mit eindringlichen Interpretationen, die auf eine systematische Auseinandersetzung mit der verästelten Forschung verzichten, dieser auch nicht bedürfen. (FAZ vom 05.04.2025, Nr. 80, S. 12)
Inzwischen liegt außerdem eine umfangreiche Untersuchung zu Augustinus und dem Pelagianismus vor, in der ebenfalls die Spannung von Kontinuität und Diskontinuität berührt wird. David Burkhart Janssen hat 2024 seine Dissertation Inimici gratiae Dei: Augustinus’ Konstruktion des Pelagianismus und die Entwicklung seiner Gnadenlehre nach 418 veröffentlicht (Brill u. Schöningh, 2024). Janssen war mehrere Jahre Assistent am Lehrstuhl von Drecoll in Tübingen und hat das Dissertationsprojekt unter dessen Betreuung durchgeführt.
Inimici gratiae Dei (dt. Feinde der Gnade Gottes) ist mit über 900 Seiten eine sehr gründliche Auseinandersetzung zum Thema Gnadentheologie. Janssen hat die Quellen akribisch untersucht und die Entwicklung der antipelagianischen Gnadenlehre so detailiert nachgezeichnet wie m.W. bisher niemand sonst.
Für alle, die sich mit neuen Perspektiven auf Pelagius oder Augustinus beschäftigen, ist es eine wahre Fundgrube. Die Kirchengeschichtsschreibung sah bis zur Jahrtausendwende den Pelagianismus überwiegend kritisch. Adolf von Harnack sagte noch: „Aber man wird urtheilen müssen, dass ihre Lehre [d.h., die der Pelagianer] den Jammer der Sünde und des Uebels verkennt, dass sie im tiefsten Sinne gottlos ist, dass sie von Erlösung nichts weiss und wissen will“ Dogmengeschichte, Bd. 3, 1890, S. 183).
In den letzten Jahren hat es mehrere Rehabilitierungsversuche der pelagianischen Theologie gegeben. So wird Augustinus vorgeworfen, in seinen späten Jahren Manichäer gewesen zu sein (der so genannte Manichäismusvorwurf). Am Bekanntesten ist The Myth of Pelagianism von Ali Bonner (2018). Bonner hat behauptet, dass im 4. Jahrhundert Pelagius eine Mehrheitsmeinung vertreten habe und vielmehr Augustinus mit seiner Betonung des geknechteten Willens und der Vorherbestimmung die Ausnahme gewesen sei. Bonner behauptet sogar, dass die Positionen, die Pelagius durch seine Gegner zugeschrieben bekam, in seinen Schriften gar nicht zu finden seien und es keine pelagianische Bewegung im engere Sinne gegeben habe. Allerdings konnte sie die Fachwelt nicht überzeugen. Andrew C. Chronister zieht in seiner Buchbesprechung das Fazit: „Alles in allem hat Bonner’s Studie den Leser nicht überzeugt“ (Augustinian Studies, Bd. 51, Ausgabe 1, 2020, S. 119). David Bukrhart Janssen schreibt (S. 27, Fn. 79):
Auch wenn – bis heute – umstritten ist, inwiefern sich Augustinus’ Theologie aus der Tradition speist, ist doch zu statuieren, dass im vierten Jahrhundert unterschiedliche Lehransätze mit einem häufig nicht ganz geklärten Nebeneinander von Gnade und menschlichem Wirken bestanden …; ebenfalls bezogen sich Augustinus und Pelagius wie ihre Vorgänger gemeinsam in diesen Fragen auf das paulinische Corpus.
Zu Kenneth Wilsons These konstatiert Janssen, dass die von ihm vollzogenen Umdatierung von Ad Simplicianum de Diversis Quaestionibus der Quellenlage widerspricht (vgl. S. 20, Fn. 54). Einen radikalen Bruch kann er bei Augustinus in der Gnadenfrage nicht finden, wohl aber eine konsequente und kontininuierliche Fortentwicklung seiner eigenen Sichtweise. Die Untersuchung schließt mit den Worten (S. 778):
Der antipelagianische, „späte“ oder alte Augustinus ist der gleiche Theologe wie der junge, der allerdings das, was er bereits in vielen Jahrzehnten angelegt hatte, in Reaktion auf die Pelagianische Kontroverse spezifizierte, zuspitzte und systematisierte. In den antipelagianischen Schriften begegnet eine situativ bedingte, aber dennoch konsequente und kontinuierliche Fortentwicklung der augustinischen Theologie.
Augustinus hat in besonderer Konsequenz die paulinische Grundansicht durchdacht, dass der Mensch Erlösung nicht aus sich selbst heraus erlangen kann, sondern der Gnade in und durch Christus bedarf. Die Schlussfolgerungen, die Augustinus daraus gezogen hat, insbesondere die Vorstellung von der Sündhaftigkeit und Gnadenbedürftigkeit aller, die Betonung des Kreuzes sowie die Prädestinationslehre, waren damals wie heute umstritten. Die Untersuchung von Augustinus’ Konstruktion und Widerlegung des Pelagianismus zeigt jedoch, dass Versuche, aus seiner Theologie den einen oder anderen Aspekt (etwa die Prädestinations- oder die tradux peccati originalis-Lehre) herauszulösen, weitreichende Änderungen an der soteriologischen Grundaussage des afrikanischen Kirchenvaters zur Folge haben: Der Mensch erlangt Rettung nur durch die Gnade des treuen und barmherzigen Gottes.